II. Die Wirtschaftsentwicklung und die Zickzacks der Führung

„Kriegskommunismus“, „Neue Wirtschaftspolitik“ (NEP) und „Kurs auf den Kulaken“


Die Entwicklungskurve der Sowjetwirtschaft bildet durchaus keine ununterbrochene und gleichmäßig aufsteigende Linie. Im Verlauf der ersten achtzehn Jahre des neuen Regimes kann man deutlich mehrere Etappen unterscheiden, die sich durch heftige Krisen von einander abgrenzen. Ein kurzer Abriss der Wirtschaftsgeschichte der UdSSR ist ganz und gar unerlässlich gleichermaßen für Diagnose und Prognose.

Die ersten drei Jahre nach dem Umsturz waren eine Periode offenen und erbitterten Bürgerkriegs. Das Wirtschaftsleben blieb vollständig den Bedürfnissen der Fronten untergeordnet. Das kulturelle Leben nistete in den Hinterhöfen und war gekennzeichnet durch kühnen Schwung des schöpferischen Gedankens, vor allem Lenins persönlichen Denkens, bei außerordentlicher Dürftigkeit der materiellen Mittel. Das ist die sogenannte Periode des „Kriegskommunismus“ (1918-1921). eine heroische Parallele zum „Kriegssozialismus“ der kapitalistischen Länder. Die Wirtschaftsaufgaben der Sowjetregierung liefen in diesen Jahren hauptsächlich darauf hinaus, die Kriegsindustrien instand zu halten und die aus der Vergangenheit übrig gebliebenen armseligen Vorräte für den Krieg und zur Rettung der städtischen Bevölkerung vor dem Verderben zu verwerten. Der Kriegskommunismus war im Grunde ein System zur Reglementierung des Verbrauchs in einer belagerten Festung.

Man muss jedoch zugeben, dass er in seiner ursprünglichen Absicht breitere Ziele verfolgte. Die Sowjetregierung hoffte und trachtete, die Reglementierungsmethoden auf direktem Wege zu einem Planwirtschaftssystem zu entwickeln, sowohl auf dem Gebiet der Verteilung wie der Produktion. Mit anderen Worten: vom „Kriegskommunismus“ gedachte sie allmählich, aber ohne das System zu verletzen, zum echten Kommunismus überzugehen. Das im März 1919 angenommene Programm der bolschewistischen Partei besagte: „Auf dem Gebiet der Verteilung besteht gegenwärtig die Aufgabe der Sowjetmacht darin, unabänderlich fortzufahren in der Ersetzung des Handels durch planmäßige, im gesamtstaatlichen Maßstab organisierte Verteilung der Produkte“.

Die Wirklichkeit jedoch geriet immer mehr in Konflikt mit dem Programm des „Kriegskommunismus“: Die Produktion ging ständig zurück, und zwar nicht nur infolge der verheerenden Wirkungen des Krieges, sondern auch, weil der Anreiz des persönlichen Interesses bei den Produzenten erloschen war. Die Stadt verlangte vom Dorf Korn und Rohprodukte, ohne dafür etwas anderes zu geben als bunte Papierlappen, die aus alter Gewohnheit Geld genannt wurden. Der Muschik vergrub seine Vorräte. Die Regierung sandte bewaffnete Arbeiterabteilungen nach Korn aus. Der Muschik säte weniger an. Die Industrieproduktion des Jahres 1921, unmittelbar nach Beendigung des Bürgerkriegs, betrug bestenfalls ein Fünftel der Vorkriegsproduktion. Die Stahlerzeugung war von 4,2 Millionen Tonnen gesunken auf 183.000 Tonnen, d.h. auf ein Dreiundzwanzigstel. Die gesamte Getreideernte von 801 Millionen Zentner auf 503 Millionen im Jahre 1922: das war das Jahr der furchtbaren Hungersnot! Gleichzeitig rutschte der Außenhandel von 2,9 Milliarden Rubel herab auf 30 Millionen. Der Verfall der Produktivkräfte stellte alles in den Schatten, was die Geschichte diesbezüglich früher aufzuweisen hatte. Das Land und mit ihm die Macht standen am Rande des Abgrunds.

Die utopischen Hoffnungen der Epoche des Kriegskommunismus wurden in der Folgezeit einer scharfen und in vielem begründeten Kritik unterzogen. Der theoretische Fehler der herrschenden Partei würde jedoch ganz unerklärlich sein, berücksichtigte man nicht, dass alle damaligen Berechnungen auf der Erwartung eines baldigen Sieges der Revolution im Westen aufgebaut waren. Man hielt es für selbstverständlich, dass das siegreiche deutsche Proletariat, gegen künftige Lieferungen von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, Sowjetrussland nicht nur mit Maschinen und Fertigwaren, sondern auch mit Zehntausenden hochqualifizierter Arbeiter, Techniker und Organisatoren versorgen würde. Und es ist kein Zweifel, wenn die proletarische Revolution in Deutschland triumphiert hätte – ihren Sieg verhinderte einzig und allein die Sozialdemokratie – die Wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion wie auch Deutschlands hätte solche Riesenschritte gemacht, dass das Schicksal Europas und der Welt heute viel günstiger aussähe. Man kann dennoch mit aller Bestimmtheit sagen, dass auch in diesem glücklichen Fall man auf die unmittelbare staatliche Verteilung der Produkte hätte verzichten und auf die Methoden des Handelsverkehrs hätte zurückgreifen müssen.

Die Notwendigkeit der Wiederherstellung des Marktes motivierte Lenin mit den im Lande vorhandenen Millionen isolierter Bauernwirtschaften, die es nicht gewohnt waren, ihre Beziehungen zur Außenwelt anders als durch den Handel zu regeln. Der Handelsverkehr sollte die sogenannte „Smytschka“ der Bauernschaft mit der nationalisierten Industrie bewirken. Die theoretische Formel der „Smytschka“ ist sehr einfach: die Industrie muss dem Dorf die notwendigen Waren zu solchen Preisen ablassen, dass der Staat auf die zwangsweise Beschlagnahme der bäuerlichen Arbeitsprodukte verzichten kann.

Die Gesundung der Wirtschaftsbeziehungen zum Dorf war zweifellos die dringendste und heikelste Aufgabe der NEP. Binnen kurzem zeigte die Erfahrung aber, dass auch die Industrie selber, trotz ihrer Vergesellschaftung, der vom Kapitalismus ausgearbeiteten Methoden der Geldrechnung bedurfte. Ein Plan kann nicht auf spekulativen Größen allein fußen. Das Spiel von Angebot und Nachfrage bleibt für ihn noch auf lange Zeit hinaus unerlässliche materielle Grundlage und heilsame Korrektur.

Der legalisierte Markt begann mit Hilfe des geordneten Geldsystems seine Wirkung auszuüben. Bereits 1923 begann die Industrie sich dank einem ersten Antrieb vom Lande zu beleben und schlug unversehens ein hohes Tempo an. Es genügt zu sagen, dass die Produktion von 1922 auf 1923 sich verdoppelte und 1926 bereits das Vorkriegsniveau erreichte, im Vergleich zu 1921 sich verfünffachte. Gleichzeitig, wenn auch in viel bescheidenerem Tempo, stiegen die Ernten.

Von dem Jahr der Wende 1923 ab nehmen die in der herrschenden Partei auch früher schon zu beobachtenden Meinungsverschiedenheiten in der Frage der Beziehungen zwischen Industrie und Landwirtschaft zu. In einem Lande, das seine Vorräte und Reserven restlos erschöpft hatte, konnte sich die Industrie nicht anders entwickeln als durch Entlehnung von Korn und Rohstoffen bei den Bauern. Allzu viele „Zwangsanleihen“ in Naturalien bedeuteten indessen Tötung des Anreizes zur Arbeit: die Bauern, die an die künftige Glückseligkeit nicht glaubten, beantworteten die Kornexpeditionen der Stadt mit dem Saatstreik. Aber auch durch zu geringe Beschlagnahmungen drohte Stillstand: da sie keine Industrieerzeugnisse bekamen, verwandelten die Bauern die Landwirtschaft in eine Wirtschaft zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und nahmen die alten Handwerksgewerbe wieder auf. Die Meinungsverschiedenheiten in der Partei begannen bei der Frage, wie viel dem Dorfe zugunsten der Industrie wegzunehmen sei, um möglichst bald zu einem dynamischen Gleichgewicht zwischen beiden zu kommen. Der Streit verwickelte sich sofort durch die Frage nach der sozialen Struktur des flachen Landes selbst.

Im Frühjahr 1923 auf dem Parteikongress demonstrierte der Vertreter der „linken Opposition“ [=Trotzki], die übrigens damals noch nicht diesen Namen trug, das Auseinanderstreben der Industrie- und Agrarpreise in Form eines besorgniserregenden Diagramms. Damals wurde diese Darstellung zum erstenmal „Schere“ genannt, eine Bezeichnung, die danach ins Weltvokabular einging. Wenn weiteres Zurückbleiben der Industrie, sagte der Berichterstatter, diese Schere immer mehr aufklaffen lässt, dann ist der Bruch zwischen Stadt und Land unvermeidbar.

Die Bauernschaft unterschied genau zwischen der von den Bolschewiki vollzogenen demokratischen Agrarrevolution und der Politik, die auf die Schaffung des Fundaments für den Sozialismus abzielte. Die Enteignung des gutsherrschaftlichen und staatlichen Bodens brachte der Bauernschaft über eine halbe Milliarde Goldrubel im Jahr ein. Doch bei den Preisen der Staatsindustrie verausgabten die Bauern eine viel größere Summe. Solange die Bilanz der beiden Revolutionen, der demokratischen und der sozialistischen, durch den Oktoberknoten fest verbunden, für die Bauern auf ein Minus von Hunderten Millionen hinauslief, stand hinter dem Bündnis der beiden Klassen ein Fragezeichen.

Die Zerstückelung der Bauernwirtschaft, ein Erbe der Vergangenheit, nahm infolge der Oktoberumwälzung nur noch zu: die Zahl der selbständigen Höfe stieg in den ersten zehn Jahren von 16 auf 25 Millionen, was naturnotwendig eine Verstärkung des reinen Verbrauchercharakters der meisten Bauernwirtschaften mit sich brachte. Das war eine der Ursachen für die Knappheit der Agrarprodukte.

Die kleine Warenwirtschaft erzeugt unvermeidlich Ausbeuter. In dem Maße, wie das flache Land sich erholte, begann auch die Differenzierung innerhalb der Bauernmasse zu wachsen: die Entwicklung ging ihren guten alten Gang. Die Erstarkung des Kulaken überholte bei weitem das allgemeine Erstarken der Landwirtschaft. Unter der Losung „das Gesicht zum Dorf!“ wandte die Regierung ihr Gesicht faktisch dem Kulaken zu. Die Agrarsteuer lastete auf dem armen Bauern ungleich schwerer als auf dem wohlhabenden, der obendrein den Rahm des Staatskredits abschöpfte. Der Getreideüberschuss, zur Hauptsache im Besitze der Dorfspitzen, diente zur Knechtung der Armen und zu spekulativem Verkauf durch die kleinbürgerlichen Elemente der Stadt. Bucharin, der damalige Theoretiker der herrschenden Fraktion, rief den Bauern seine berühmte Losung zu: „Bereichert euch!“ In der Sprache der Theorie sollte dies ein allmähliches Hineinwachsen des Kulaken in den Sozialismus bedeuten. In der Praxis bedeutete es die Bereicherung einer Minderheit auf Kosten der überwältigenden Mehrheit.

Gefangene ihrer eigenen Politik, sah sich die Regierung gezwungen, Schritt für Schritt vor den Forderungen des ländlichen Kleinbürgertums zurückzuweichen. 1925 wurden für die Landwirtschaft der Erwerb von Arbeitskraft und die Verpachtung des Bodens legalisiert. Die Bauernschaft polarisierte sich zwischen dem Kleinkapitalisten einerseits, dem Knecht andererseits. Unterdessen war der Staat mangels Fabrikwaren aus dem ländlichen Verkehr ausgeschaltet. Zwischen Kulak und kleinem Handwerksmeister tauchte gleichsam aus dem Erdboden der Zwischenhändler auf. Selbst Staatsbetriebe auf der Suche nach Rohstoffen waren immer häufiger genötigt, sich an private Händler zu wenden. Überall war die kapitalistische Brandung zu verspüren. Die denkenden Elemente konnten sich anschaulich davon überzeugen, dass eine Umwälzung in den Eigentumsformen die Probleme des Sozialismus noch nicht löst, sondern sie erst stellt.

1925, als der Kurs auf den Kulaken zu seiner höchsten Entfaltung kam, ging Stalin dazu über, die Entnationalisierung des Bodeneigentums vorzubereiten. Auf die von ihm selbst bestellte Frage eines Sowjetjournalisten: „Wäre es nicht im Interesse der Landwirtschaft angebracht jedem Bauern das von ihm bearbeitete Stück Erde auf zehn Jahre zu verschreiben?“ antwortete Stalin: „Sogar auf vierzig“. Der Volkskommissar für Landwirtschaft von Georgien brachte auf Stalins direkte Initiative einen Gesetzentwurf zur Entnationalisierung des Bodens ein. Die Absicht war, dem Großbauern Vertrauen in seine eigene Zukunft einzuflößen. Unterdessen befanden sich im Frühjahr 1926 bereits an die 60% des zum Verkauf bestimmten Getreides in den Händen von 6% der Bauernwirtschaften! Dem Staat mangelte es an Korn nicht nur für den Außenhandel, sondern auch für den inneren Bedarf. Der winzige Umfang des Exports zwang zum Verzicht auf den Import von Fertigprodukten und schmälerte aufs extremste die Einfuhr von Maschinen und Rohstoffen.

Das Setzen auf den Großbauern hemmte die Industrialisierung, benachteiligte die Hauptmasse der Bauern und sollte im Laufe der Jahre 1924-1926 unzweideutig auch seine politischen Folgen zeitigen: außerordentliche Hebung des Selbstbewusstseins des Kleinbürgertums von Stadt und Land, Eroberung vieler lokaler Sowjets durch dieses, Zunahme der Kraft und der Selbstsicherheit bei der Bürokratie, wachsender Druck auf die Arbeiter, völlige Tötung der Partei- und Sowjetdemokratie. Über das Wachsen des Kulakentums erschraken die repräsentativen Teilnehmer der regierenden Gruppe, Sinowjew und Kamenjew, welche nicht zufällig die ehemaligen Vorsitzenden der Sowjets in den beiden wichtigsten proletarischen Zentren: Leningrad und Moskau, waren. Doch die Provinz und vor allem die Bürokratie hielten fest zu Stalin. Der Kurs auf den Großbauern trug den Sieg davon. Sinowjew und Kamenjew schlossen sich mit ihren Anhängern 1926 der Opposition von 1923 (den „Trotzkisten“) an.

Die Kollektivierung der Landwirtschaft :ist von der herrschenden Fraktion natürlich auch damals „im Prinzip“ nicht verneint worden. Doch wies man ihr einen Platz erst in einer Perspektive von Jahrzehnten an. Der spätere Volkskommissar für Landwirtschaft Jakowlew schrieb 1927, die sozialistische Umwandlung des flachen Landes könne zwar nur durch Kollektivierung erfolgen, aber „natürlich nicht in ein, zwei, drei Jahren, vielleicht in einem Jahrzehnt“. „Die Kolchosen und Kommunen“, fuhr er fort, „sind gegenwärtig und zweifellos noch auf lange Zeit nur Inselchen im Meer der Bauernwirtschaften“. Tatsächlich machten die Kollektiven damals nur ganze 0,8% der Höfe aus.

Der Kampf in der Partei um die sogenannte „Generallinie“, der 1923 nach außen gedrungen war, nahm seit 1926 besonders gespannte und heftige Formen an. In ihrer umfangreichen Plattform, die alle Probleme der Wirtschaft und der Politik umfasste, schrieb die Opposition: „Die Partei muss allen Tendenzen, die Nationalisierung des Landes – eine der Grundlagen der Diktatur des Proletariats – zu beseitigen oder zu untergraben, eine radikale Abfuhr erteilen.“ In dieser Frage trug die Opposition den Sieg davon: die direkten Anschläge auf die Nationalisierung wurden fallen gelassen. Aber die Frage war wie gesagt mit den Formen des Bodeneigentums nicht erschöpft.

Dem wachsenden Farmertum im Dorf“, heißt es weiter in der Plattform, „muss ein rascheres Wachstum der Kollektive entgegengestellt werden. Notwendig sind in jedem Jahr systematische und erhebliche Mittelanweisungen zur Unterstützung der in Kollektiven organisierten Dorfarmut“ „Die Arbeit der Genossenschaften muss dem Ziel dienen, die Kleinproduktion in große kollektive Produktion zu transformieren.“ Allein, ein breites Kollektivierungsprogramm wurde für die nächsten Jahre hartnäckig als Utopie betrachtet. Während der Vorbereitung des 15. Parteikongresses, der die linke Opposition ausschließen sollte, sagte Molotow, der zukünftige Vorsitzende des Rates der Volkskommissare: „Man darf nicht in die Armbauernillusionen von einer Kollektivierung der breiten Bauernmassen schon unter den gegenwärtigen Umständen schliddern (!).“ Der Kalender zeigte Ende 1927. So weit war damals noch die herrschende Fraktion von der Politik, die sie schon am folgenden Tag auf dem Lande einschlagen sollte!

Jene Jahre (1923-1928) verliefen gleichfalls im Kampf der regierenden Koalition (Stalin, Molotow, Rykow, Tomski, Bucharin; Sinowjew und Kamenjew gingen Anfang 1926 in die Opposition) gegen die Anhänger der „Überindustrialisierung“ und der Planung. Der künftige Geschichtsschreiber wird nicht ohne Staunen die bösartigen, misstrauischen Stimmungen gegen kühne wirtschaftliche Initiative feststellen, von denen die Regierung des sozialistischen Staates ganz erfüllt war. Die Beschleunigung des Industrialisierungstempos geschah empirisch, unter Antrieb von außen, mittendrin wurden alle Berechnungen über den Haufen geworfen, was die Unkosten außerordentlich erhöhte. Die seit 1923 von der Opposition erhobene Forderung nach der Ausarbeitung eines Fünfjahresplans stieß auf Spott, wie er einem Kleinbürger ziemt, der sich vor „Sprüngen ins Ungewisse“ fürchtet. Noch im April 1927 versicherte Stalin im Plenum des Zentralkomitees, den Bau eines Wasserkraftwerks am Dnjepr zu beginnen, sei für uns dasselbe wie für einen Muschik, sich statt einer Kuh ein Grammophon zu kaufen. Dies geflügelte Wort war ein ganzes Programm. Es ist nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass die gesamte bürgerliche Weltpresse, von der sozialistischen nachgeahmt, in jenen Jahren voll Sympathie die offiziellen Anklagen gegen die „linke Opposition“ wegen ihrer Industrieromantik übernahm.

Unter dem Lärm der Parteidiskussionen beantwortete der Bauer den Mangel an Industriewaren mit immer hartnäckigerem Streik: er fuhr das Korn nicht auf den Markt und vergrößerte die Aussaat nicht. Die Rechten (Rykow, Tomski, Bucharin). die damals den Ton angaben, verlangten, dass den kapitalistischen Tendenzen auf dem Lande mehr Spielraum gewährt werde vermittels Erhöhung des Getreidepreises, und sei es auf Kosten einer Senkung des industriellen Entwicklungstempos. Der einzige Ausweg bei dieser Politik hätte darin bestanden, im Austausch gegen exportierte Agrarprodukte aus dem Ausland Fertigwaren einzuführen. Dies aber hätte bedeutet, die Smytschka nicht zwischen der Bauernwirtschaft und der sozialistischen Industrie herzustellen, sondern zwischen dem Kulaken und dem Weltkapitalismus. Dafür hätte man keine Oktoberumwälzung gebraucht.

„Eine Beschleunigung der Industrialisierung“, wandte der Vertreter der Opposition auf der Parteikonferenz von 1926 ein, „insbesondere durch eine stärkere Besteuerung der Kulaken, wird zu einer größeren Warenmasse führen, was die Einzelhandelspreise verringern wird; und das ist vorteilhaft sowohl für die Arbeiter als auch für die Mehrheit der Bauern ... Das Gesicht zum Dorf bedeutet nicht, der Industrie den Rücken kehren, sondern durch die Industrie zum Dorf, denn mit dem „Gesicht“ eines Staates ohne Industrie kann das Dorf an sich gar nichts anfangen“.

Als Antwort darauf verdonnerte Stalin die „fantastischen Pläne“ der Opposition: die Industrie dürfe nicht „sich zu weit vorwagen, die Landwirtschaft im Stich lassen und vom Akkumulationstempo in unserem Lande absehen“. Die Parteibeschlüsse wiederholten weiter dieselben Vorschriften, sich passiv den großbäuerlichen Spitzen der Bauernschaft anzupassen. Der 15. Kongress, der im Dezember 1927 tagte und endgültig die „Überindustrialisierer“ vernichten sollte, warnte vor der „Gefahr eines allzu großen Einsatzes von Staatskapitalien in das große Aufbauwerk“. Andere Gefahren wollte die herrschende Fraktion immer noch nicht sehen.

Im Wirtschaftsjahr 1927-1928 ging die sogenannte Wiederaufbauperiode zu Ende, während der die Industrie hauptsächlich mit der Ausrüstung aus der Zeit vor der Revolution gearbeitet hatte, und die Landwirtschaft mit dem alten Inventar. Weiteres Fortschreiten erforderte einen selbständigen industriellen Aufbau in breitem Umfange. Mit einer sich planlos vorwärtstastenden Führung ging es auf keinen Fall weiter.

Die hypothetischen Möglichkeiten einer sozialistischen Industrialisierung waren von der Opposition bereits 1923-1925 analysiert worden. Die allgemeine Schlussfolgerung lautete, dass die Sowjetindustrie nach Erschöpfung der von der Bourgeoisie ererbten Ausrüstung auf Grund sozialistischer Akkumulation Wachstumstempos aufweisen könne, die für den Kapitalismus gänzlich unerreichbar sind. Offen verhöhnten die Häupter der herrschenden Fraktion vorsichtige Wachstumskoeffizienten wie 15 bis 18% als phantastische Musik einer unbekannten Zukunft. Darin bestand damals das Wesen des Kampfes gegen den „Trotzkismus“.

Die erste offizielle Skizze des Fünfjahresplans, die endlich 1927 fertiggestellt wurde, war ganz vom Geist der Kleinlichkeit durchdrungen. Die Zunahme der Industrieproduktion sollte danach in einer von Jahr zu Jahr abnehmenden Geschwindigkeit, von 9 bis 4%, erfolgen. Der individuelle Verbrauch sollte in den fünf Jahren insgesamt um 12% steigen! Die unglaubliche Zaghaftigkeit dieses Vorhabens erhellt sich am besten aus der Tatsache, dass das Staatsbudget am Ende des Fünfjahresplans ganze 16% des Volkseinkommens betragen sollte, während das Budget des zaristischen Russland. das doch gewiss keine sozialistische Gesellschaft aufzubauen gedachte, bis zu 18% verschlang! Es ist vielleicht nicht überflüssig hinzuzufügen, dass die Ingenieure und Ökonomen, die diesen Plan aufstellten, einige Jahre später gerichtlich schwer bestraft wurden als bewusste, auf Anweisung einer ausländischen Macht handelnde Schädlinge. Die Angeklagten konnten, hätten sie es gewagt, erwidern, dass ihr Planwerk ganz der damaligen „Generallinie“ des Politbüros entsprach und nach dessen Vorschrift ausgeführt worden war.

Der Kampf der Tendenzen war nunmehr in die Sprache der Ziffern übersetzt. „Zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution einen armseligen, durch und durch pessimistischen Plan vorlegen“, hieß es in der Plattform der Opposition, „heißt in der Praxis gegen den Sozialismus arbeiten“. Ein Jahr später billigte das Politbüro einen netten Entwurf des Fünfjahresplans mit einer durchschnittlichen Industriezunahme von 9% pro Jahr. Der tatsächliche Gang der Entwicklung wies jedoch die beharrliche Tendenz auf, sich den Koeffizienten der „Überindustrialisierer“ zu nähern. Noch ein Jahr später, als der Kurs der Regierungspolitik schon radikal gewechselt hatte, arbeitete die Staatsplanbehörde einen dritten Fünfjahresplan aus, dessen Dynamik weit mehr als zu erwarten war mit der hypothetischen Prognose der Opposition vom Jahre 1925 übereinstimmte.
Die wirkliche Geschichte der Wirtschaftspolitik der UdSSR ist wie man sieht von der offiziellen Legende sehr verschieden. Leider legen sich fromme Forscher wie die Webb davon nicht die geringste Rechenschaft ab.


Scharfe Wendung „Fünfjahresplan in Vier Jahren“ und „vollständige Kollektivierung“

Unentschlossenheit angesichts der individuellen Bauernwirtschaft, Misstrauen gegen große Pläne, Eintreten für Minimaltempos, Geringschätzung der internationalen Probleme, all das zusammen bildet das eigentliche Wesen der Theorie des „Sozialismus in einem Lande“, die von Stalin erstmalig im Herbst 1924 aufgestellt wurde, nach der Niederlage des Proletariats in Deutschland. Keine Eile mit der Industrialisierung, kein Zank mit dem Muschik, kein Verlass auf die Weltrevolution und vor allem Schutz der Macht der Parteibürokratie vor Kritik! Die Differenzierung der Bauernschaft ist ja nur eine Erfindung der Opposition. Der bereits oben erwähnte Jakowlew jagt das Zentrale Statistische Amt davon, in dessen Tabellen der Kulak einen größeren Raum einnimmt, als der Macht genehm war. Während die Führer beruhigend versicherter, der Warenhunger sei überwunden, „ruhige Tempos der Wirtschaftsentwicklung“ stünden bevor, die Getreideaufbringung werde in Zukunft „gleichmäßiger“ vonstatten gehen, und so weiter, gewann der Kulak den Mittelbauern für sich und verhängte über die Stadt eine Getreideblockade. Im Januar 1928 sah sich die Arbeiterklasse dem Gespenst einer drohenden Hungersnot gegenüber. Die Geschichte weiß böse Witze zu reißen. Just in dem Monat, wo der Kulak die Revolution bei der Gurgel packte, wurden die Vertreter der linken Opposition gefangen gesetzt oder nach Sibirien transportiert zur Strafe für „Panik“ vor dem Gespenst des Kulaken.

Die Regierung versuchte, die Sache so darzustellen, als sei der Kornstreik hervorgerufen durch die nackte Feindseligkeit des Kulaken (woher kommt nur mit einem Mal der Kulak?) gegen den sozialistischen Staat. d.h. durch politische Motive allgemeiner Art. Aber zu solchem „Idealismus“ ist der Kulak wenig geneigt. Wenn er sein Getreide versteckte, so weil es unvorteilhaft war, es zu verkaufen. Aus demselben Grunde gelang es ihm, breite Kreise des Dorfes unter seinen Einfluss zu bringen. Bloße Repressalien gegen die Kulakensabotage waren daher sichtlich unzulänglich: notwendig war eine Änderung der Politik. Jedoch durch Schwanken ging noch viel Zeit verloren.

Rykow, damals noch Regierungsoberhaupt, erklärte im Juli 1928: „Die Entwicklung der individuellen Bauernwirtschaften ist ... die wichtigste Aufgabe der Partei“, und Stalin sprach ihm nach: „Es gibt Leute, die denken, die individuelle Wirtschaftsweise sei überlebt, und es verlohne sich nicht, sie zu unterstützen ... Diese Leute haben mit der Linie unserer Partei nichts gemein“. Weniger als ein Jahr später hatte die Parteilinie nichts mehr gemein mit diesen Worten: am Horizont dämmerte das Morgenrot der totalen Kollektivierung.

Der neue Kurs formte sich ebenso empirisch wie der vorhergehende, in verstecktem Kampf innerhalb des Regierungsblocks. „Was die Gruppen der Rechten und des Zentrums eint, ist die gemeinsame Feindschaft gegen die Opposition“, hatte die Plattform der Linken ein Jahr früher gesagt, „die Absägung der Opposition aber würde unvermeidlich den Kampf zwischen ihnen selbst beschleunigen“. So kam es auch. Die Führer des zerfallenden regierenden Blocks wollten jedoch um keinen Preis zugeben, dass diese Prognose des linken Flügels sich wie viele andere bewahrheitete. Stalin erklärte noch am 19. Oktober 1928 öffentlich: „Es ist höchste Zeit, dem Klatsch ein Ende zu bereiten..., wonach es im Politbüro unseres ZK eine rechte Abweichung oder ein versöhnlerisches Verhalten ihr gegenüber gebe“. Beide Gruppen fühlten zu jener Zeit dem Apparat den Puls. Die erstickte Partei lebte von dunklen Gerüchten und Rätselraten. Nach einigen Monaten aber verkündete die offizielle Presse bereits mit der ihr eigenen Unverschämtheit, Rykow, das Regierungsoberhaupt, habe „auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Sowjetmacht spekuliert“, Bucharin, der Leiter der Komintern, habe sich als „Schrittmacher liberal-bürgerlicher Einflüsse“ erwiesen, Tomski, der Vorsitzende des Generalrats der Gewerkschaften, sei nichts weiter als ein elender Tradeunionist. Alle drei, Rykow, Bucharin und Tomski, waren Mitglieder des Politbüros. Hatte der ganze vorherige Kampf gegen die linke Opposition seine Waffen dem Arsenal der rechten Gruppe entnommen, so konnte jetzt Bucharin, ohne gegen die Wahrheit zu verstoßen, Stalin beschuldigen, sich im Kampf gegen die Rechten teilweise der verurteilten Plattform der Opposition zu bedienen.

So oder so, die Wendung war vollzogen. Die Losung „Bereichert euch!“ wurde ebenso wie die Theorie des schmerzlosen Hineinwachsens des Kulaken in den Sozialismus zwar mit Verspätung, dafür aber um so entschiedener verurteilt. Die Industrialisierung wurde auf die Tagesordnung gesetzt. An die Stelle des selbstzufriedenen Quietismus trat panisches Ungestüm. Lenins halbvergessene Losung „einholen und überholen“ wurde durch die Worte ergänzt: „in kürzester Frist“. Der im Prinzip bereits vom Parteikongress angenommene minimalistische Fünfjahresplan machte einem neuen Plane Platz, dessen Grundelemente ganz und gar der Plattform der verdonnerten linken Opposition entlehnt waren, Der Dnjeprostroj, gestern noch mit einem Grammophon verglichen, stand heute im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Sogleich nach den ersten neuen Erfolgen wurde die Losung herausgegeben: Vollendung des Fünfjahresplans in vier Jahren. Die aufgeregten Empiriker verfügten, von nun an sei alles möglich. Der Opportunismus verkehrte sich, wie es in der Geschichte nicht selten zu sein pflegt, in sein Gegenteil, das Abenteurertum. War das Politbüro in den Jahren 1923-1928 bereit gewesen, sich mit Bucharins Philosophie vom „Schneckentempo“ abzufinden, so sprang es jetzt behend von 20 auf 30% jährlichen Wachstums, versuchte es jeden Teil- und Augenblickserfolg in eine Norm zu verwandeln und verlor die wechselseitige Bedingtheit der Wirtschaftszweige aus dem Auge. Die finanziellen Lücken des Planes wurden mit bedrucktem Papier verstopft. In den Jahren des ersten Fünfjahresplans stieg die im Umlauf befindliche Geldscheinmenge von 1,7 auf 5,5 Milliarden, um zu Beginn des zweiten Fünfjahresplans 8,4 Milliarden Rubel zu erreichen. Die Bürokratie entzog sich nicht nur der politischen Kontrolle durch die Massen, auf denen die forcierte Industrialisierung unerträglich schwer lastete, sondern auch der automatischen Kontrolle durch den Tscherwonez. Das zu Beginn der NEP gefestigte Geldsystem war aufs Neue gründlich zerrüttet.

Die Hauptgefahren, und zwar nicht nur für die Planerfüllung, sondern auch für das Regime selbst, drohten jedoch vom Dorfe her.

Am 15. Februar 1928 erfuhr die Bevölkerung des Landes nicht ohne Erstaunen aus einem Leitartikel der Prawda, dass es auf dem Lande gar nicht so aussehe, wie bisher die Machthaber es schilderten, dafür aber dem Bilde sehr nahe kam, das die vom Kongress ausgeschlossene Opposition gegeben hatte. Die Presse, die gestern noch buchstäblich die Existenz des Kulaken leugnete, entdeckte ihn jetzt auf ein Signal von oben nicht nur im Dorf, sondern sogar in der Partei. Es stellte sich heraus. dass kommunistische Zellen nicht selten von reichen Bauern geleitet waren, die ein reichhaltiges Inventar besaßen, sich gekaufter Arbeitskraft bedienten, dem Staat Hunderte und sogar Tausende Pud Getreide vorenthielten und unversöhnlich gegen die „trotzkistische“ Politik auftraten. Die Zeitungen wetteiferten in sensationellen Enthüllungen, wie Kulaken in ihrer Eigenschaft als Sekretäre der lokalen Komitees arme Bauern und Knechte nicht in die Partei zuließen. Alle alten Begriffe waren über den Haufen geworfen. Minus und Plus vertauschten ihre Plätze.

Um die Stadt zu ernähren, galt es schleunigst beim Kulaken das tägliche Brot zu holen. Das konnte nur mit Gewalt geschehen. Die Expropriation der Kornvorräte, und zwar nicht nur beim Kulaken, sondern auch beim Mittelbauern, hieß in der offiziellen Sprache „außerordentliche Maßnahmen“. Das sollte bedeuten, dass morgen alles ins alte Geleise zurückkehren werde. Doch das Dorf traute den guten Worten nicht, und hatte recht darin. Die Zwangsbeschlagnahme des Korns nahm den wohlhabenden Bauern die Lust zur Erweiterung der Aussaat. Der Landarbeiter und der arme Bauer waren ohne Arbeit. Die Landwirtschaft stak wiederum in der Sackgasse, und mit ihr der Staat. Koste es, was es wolle, die „Generallinie“ musste umgestaltet werden.

Stalin und Molotow räumten zwar nach wie vor der individuellen Wirtschaft die erste Steile ein, begannen aber die Notwendigkeit einer raschen Ausdehnung der Sowchosen und Kolchosen zu betonen. Da jedoch die scharfe Lebensmittelknappheit nicht erlaubte, auf Militärexpeditionen ins Dorf zu verzichten, so hing das Programm zur Hebung der individuellen Wirtschaften in der Luft. Man musste in die Kollektivierung „schliddern“. Die zeitweiligen „außerordentlichen Maßnahmen“ zur Kornbeschlagnahme verwandelten sich unvorhergesehenerweise in ein Programm zur „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“. Aus den widersprechenden Anweisungen, die es reichlicher gab als Brotrationen, ging deutlich hervor, dass die Regierung in der Bauernfrage nicht nur kein Fünfjahres-, sondern nicht einmal ein Fünfmonatsprogramm hatte.

Dem bereits unter der Peitsche der Lebensmittelkrise ausgearbeiteten Plan zufolge sollte die Kollektivwirtschaft am Ende des Jahrfünfts rund 20% der Bauernanwesen umfassen. Dies Programm, dessen Grandiosität einem deutlich wird, wenn man bedenkt, dass in den zehn vorhergehenden Jahren weniger als 1% des Dorfes von der Kollektivierung erfasst worden war, erwies sich jedoch schon in der Mitte des Jahrfünfts weit übertroffen. Im November 1929 machte Stalin mit seinem Schwanken Schluss und proklamierte das Ende der individuellen Wirtschaft: die Bauern treten in die Kolchosen ein „zu ganzen Dörfern, Kreisen, ja Bezirken“, Jakowlew, der zwei Jahre zuvor bewiesen hatte, die Kolchosen würden noch auf Jahre hinaus nur „Inselchen im Meer der Bauernwirtschaften“ sein, erhielt jetzt in seiner Eigenschaft als Volkskommissar für Landwirtschaft den Auftrag, „das Kulakentum als Klasse zu liquidieren“ und die restlose Kollektivierung „in kürzester Frist“ zu verwirklichen. Im Laufe des Jahres 1929 stieg die Zahl der kollektivierten Anwesen von 1,7% auf 3,9%, 1930 auf 23,6%, 1931 bereits auf 52,7%, und 1932 auf 61,5%.

In unseren Tagen bringt es wohl kaum noch jemand fertig, den liberalen Unsinn nachzuschwätzen, die Kollektivierung sei insgesamt nur eine Frucht der nackten Gewalt. Im Kampf gegen die Bodenknappheit hat die Bauernschaft in früheren Geschichtsepochen hier sich gegen die Gutsherren erhoben, dort den Kolonistenstrom in jungfräuliche Gegenden gelenkt, dort endlich sich in alle Arten von Sekten gestürzt, wo himmlische Gefilde den Muschik für seine Landnot entlohnten. Jetzt, nach der Expropriierung der großen Besitztümer und der äußersten Parzellierung des vorhandenen Bodens, war die Zusammenfassung der Landfetzen in größere Gelände zur Lebensfrage für die Bauernschaft, die Landwirtschaft, ja die gesamte Gesellschaft geworden.

Mit dieser allgemeinen historischen Überlegung war die Frage jedoch noch längst nicht gelöst. Die realen Möglichkeiten der Kollektivierung wurden weder durch die ausweglose Lage auf dem Lande noch durch die administrative Energie der Regierung bestimmt, sondern vor allen Dingen durch die vorhandenen Ressourcen der Produktion, d.h. durch die Fähigkeit der Industrie, der Großlandwirtschaft das notwendige Inventar zu liefern. Diese materiellen Voraussetzungen waren nicht vorhanden. Die Kolchosen wurden mit einem Inventar gebildet, das meistens nur für Parzellenwirtschaft geeignet war. Unter diesen Umständen wurde die übertrieben schnelle Kollektivierung zum ökonomischen Abenteuer.

Vom Radikalismus der eigenen Wendung selbst überrumpelt, vermochte oder verstand es die Regierung nicht einmal, die elementarste politische Vorbereitung auf den neuen Kurs zustande zu bringen. Nicht nur die Bauernmassen, sondern auch die lokalen Behörden wussten nicht, was man von ihnen eigentlich wollte. Die Bauernschaft war bis zur Weißglut erhitzt durch Gerüchte. Vieh und Habe sollen dem Fiskus anheimfallen Dies Gerücht war gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt. Tatsächlich erfüllte sich genau die Karikatur, die man sich seinerzeit von der linken Opposition gemacht hatte die Bürokratie „plünderte das Dorf“. Die Kollektivierung stellte sich dem Bauern vor allem als eine Expropriation all seiner Habe dar. Man vergesellschaftete Pferde, Kühe, Schafe, Schweine, ja selbst Küken, „man entkulakisierte“ – wie ein Augenzeuge ins Ausland schrieb – „alles bis zu den Filzstiefeln, die man den kleinen Kindern von den Füßen zog“. Ergebnis: die Bauern verkauften ihr Vieh in Massen zu Schleuderpreisen oder schlachteten es ab, um Fleisch und Häute daraus zu machen.

Im Januar 1930 entwarf Andrejew, Mitglied des Zentralkomitees, auf dem Moskauer Kongress folgendes Bild von der Kollektivierung: einerseits wird die sich mächtig über das ganze Land ausbreitende Kolchosbewegung „jetzt auf ihrem Wege alle und jede Schranken niederreißen“, andererseits nimmt der räuberische Ausverkauf des eigenen Inventars, des Viehs und sogar des Saatkorns durch die Bauern vor dem Eintritt in die Kolchosen „geradezu bedrohliche Ausmaße an“... Wie widersprechend diese beiden nebeneinander aufgestellten Verallgemeinerungen auch sind, kennzeichnen sie doch von den zwei verschiedenen Seiten her richtig den epidemischen Charakter der Kollektivierung als einer Verzweiflungsmaßnahme. „Die vollständige Kollektivierung“. schrieb der zitierte kritische Beobachter, „schleuderte die Volkswirtschaft in einen Zustand lange nicht mehr da gewesener Zerrüttung: es war, als habe ein dreijähriger Krieg gewütet.“

Fünfundzwanzig Millionen isolierter Bauernegoismen, gestern noch die einzigen Triebkräfte der Landwirtschaft – schwach zwar wie der Klepper des Muschiks, aber doch Triebkräfte –‚ versuchte die Bürokratie mit einem Federstrich durch das Kommando von zweihunderttausend Kolchosverwaltungen zu ersetzen, ohne technische Mittel, ohne agronomische Kenntnisse und ohne Stütze in der Landbevölkerung selbst. Die verheerenden Folgen dieses Abenteurertums blieben nicht aus und erstreckten sich über mehrere Jahre. Der Gesamtertrag der Getreidekulturen, der 1930 835 Millionen Zentner ausmachte, sank in den folgenden zwei Jahren auf unter 700 Millionen. Der Unterschied sieht an sich nicht katastrophal aus, bedeutete aber den Ausfall eben der Getreidemenge, welche die Städte brauchten, wenigstens bis zur Gewöhnung an die Hungernorm. Noch schlimmer war es mit den technischen Kulturen bestellt. Vor der Kollektivierung hatte die Zuckergewinnung fast 109 Millionen Pud erreicht, um dann nach zwei Jahren im Hochbetrieb der restlosen Kollektivierung wegen Mangel an Rüben auf 48 Millionen Pud zu fallen, d.h. auf weniger als die Hälfte. Doch am verwüstendsten tobte der Orkan im ländlichen Tierreich. Die Zahl der Pferde sank um 55%: von 34,6 Millionen im Jahre 1929 auf 15,6 Millionen im Jahre 1934; das Hornvieh von 30,7 Millionen auf 19,5 d.h. um 40%; die Zahl der Schweine um 55%, die der Schafe um 66%. Wie viel Menschen vor Hunger, Kälte, Seuchen und Repressalien umkamen, ist leider nicht mit derselben Genauigkeit festgestellt worden wie der Viehverlust, aber auch sie zählen nach Millionen. Die Schuld für diese Opfer trifft nicht die Kollektivierung, sondern die blinden Hasard- und Gewaltmethoden der Durchführung. Die Bürokratie hatte nichts vorausgesehen. Selbst das Kolchosenstatut, welches das persönliche Interesse des Bauern mit dem kollektiven zu verknüpfen suchte, wurde erst veröffentlicht, als das unglückliche Dorf von der grausamen Verwüstung bereits heimgesucht war.

Der forcierte Charakter des neuen Kurses war aus der Notwendigkeit entstanden, sich vor den Folgen der Politik von 1923-1928 zu retten. Dennoch hätte die Kollektivierung in vernünftigerem Tempo und planmäßigeren Formen geschehen können und sollen. Herrin der Macht und der Industrie, hätte die Bürokratie den Kollektivierungsprozess regulieren können, auch ohne das Land an den Rand der Katastrophe zu bringen. Man konnte und musste Tempos wählen, die den materiellen und moralischen Ressourcen des Landes besser entsprochen hätten. „Unter günstigen inneren und internationalen Bedingungen“, schrieb 1930 das Auslandsorgan der „Linken Opposition“, „können die materiellen und technischen Voraussetzungen der Landwirtschaft im Laufe von etwa 10 bis 15 Jahren grundlegend verändert werden und damit die Produktionsgrundlage für die Kollektivierung sichergestellt werden. An kann jedoch in all den Jahren, die uns von diesem Zustand trennen, auch ohne weiteres die Sowjetmacht mehrfach zu Fall bringen.“

Diese Warnung war nicht übertrieben: noch nie war das Territorium der Oktoberrevolution so unmittelbar vom Todeshauch berührt worden wie in den Jahren der vollständigen Kollektivierung. Unzufriedenheit, Ungewissheit, Erbitterung zerfraßen das Land. Die Zerrüttung des Geldsystems. die Übereinanderschichtung von festen, „konventionellen“ und Freihandelspreisen, der Übergang vom scheinbaren Handel zwischen Staat und Bauernschaft zu Getreide-, Fleisch- und Milchsteuern. der Kampf auf Leben und Tod gegen den massenhaften Diebstahl am Kolchoseigentum und gegen die massenhaften Verheimlichungen dieses Raubs, die rein militärische Mobilisierung der Partei zum Kampf gegen die Kulakensabotage nach der „Liquidierung“ des Kulakentums als Klasse, und zugleich damit die Rückkehr zum Lebensmittelkartensystem und zur Hungerration, schließlich die Wiedereinführung der Inlandspässe – all diese Maßnahmen erzeugten, so schien es, im Lande wieder die Atmosphäre des längst beendigten Bürgerkriegs.

Die Versorgung der Fabriken mit Rohstoffen und Verpflegung verschlimmerte sich von Vierteljahr zu Vierteljahr. Die unerträglichen Existenzbedingungen verursachten Fluktuation der Arbeitskraft, Bummelei, nachlässige Arbeit, Maschinenbrüche, hohen Prozentsatz von Ausschuss, niedrige Qualität der Erzeugnisse. Die durchschnittliche Arbeitsproduktivität sank 1931 um 11,7%. Molotow entwischte das Geständnis, welches dann von der gesamten Sowjetpresse gedruckt wurde, dass die Industrieproduktion 1932 nicht um 36% gestiegen war, wie es der Jahresplan vorschrieb, sondern nur um 8,5%. Die Welt bekam allerdings bald darauf zu hören, der Fünfjahresplan sei in vier Jahren und drei Monaten erfüllt worden. Doch das hat lediglich zu bedeuten, dass der Zynismus der Bürokratie beim Umgang mit der Statistik und der öffentlichen Meinung keine Grenzen kennt. Allein, nicht das ist die Hauptsache: auf dem Spiele stand nicht das Schicksal des Fünfjahresplans, sondern das Schicksal des Regimes.

Das Regime hielt stand. Das ist sein eigenes Verdienst, denn es hat im Boden des Volkes tiefe Wurzeln geschlagen. In nicht geringerem Masse ist es aber auch das Verdienst günstiger äußerer Umstände. In den Jahren des Wirtschaftschaos und des Bürgerkriegs auf dem Lande war die Sowjetunion den äußeren Feinden gegenüber praktisch gelähmt. Die Unzufriedenheit der Bauernschaft hatte auf die Armee übergegriffen. Unsicherheit und Schwanken demoralisierten den bürokratischen Apparat und die Kommandokader. Ein Schlag von Osten oder Westen hätte zu jener Zeit schicksalsschwere Folgen haben können.

Zum Glück hatten die ersten Jahre der Handels- und Industriekrise in der ganzen kapitalistischen Welt Stimmungen ratlosen Abwartens erzeugt. Niemand war zum Krieg bereit, niemand wollte ihn wagen. Außerdem war man sich in keinem der feindlichen Staaten hinreichend klar über die ganze Schärfe der sozialen Konvulsionen, die das Land der Sowjets unter dem Gekrach und Getön der offiziellen Musik zu Ehren der „Generallinie“ schüttelten.

Trotz all seiner Kürze zeigt dieser unser historischer Abriss hoffentlich, wie weit die wirkliche Entwicklung des Arbeiterstaates von dem idyllischen Bild einer allmählichen und unaufhörlichen Anhäufung von Erfolgen entfernt ist. Aus der krisenreichen Vergangenheit werden wir später wichtige Fingerzeige für die Zukunft entnehmen. Zugleich ist der geschichtliche Überblick über die Politik der Sowjetregierung und ihre Zickzacks absolut unerlässlich zur Zerstörung jenes künstlich großgezogenen individualistischen Fetischismus, welcher die Ursache der wirklichen wie der vermeintlichen Erfolge in den ungewöhnlichen Eigenschaften der Führerschaft sucht und nicht in den von der Revolution geschaffenen Bedingungen des vergesellschafteten Eigentums.

Die objektiven Vorzüge der neuen Gesellschaftsordnung äußern sich natürlich auch in den Methoden der Führung; aber diese spiegelt in nicht geringerem Masse auch die wirtschaftliche und kulturelle Zurückgebliebenheit des Landes und die kleinbürgerlichen provinziellen Verhältnisse wider, in denen sich die leitenden Kader selbst formten.

Man beginge einen sehr groben Fehler, wenn man daraus schlussfolgerte, dass die Politik der Sowjetführung von drittrangiger Bedeutung sei. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Regierung, die in solchem Masse das Schicksal des Landes in der Hand hielte. Erfolge und Misserfolge eines einzelnen Kapitalisten hängen – natürlich nicht vollständig, nicht allein, aber in sehr bedeutendem, wenn nicht entscheidenden Grade – von seinen persönlichen Eigenschaften ab. Mutatis mutandis ist die Stellung der Sowjetregierung gegenüber der Gesamtwirtschaft die eines Kapitalisten gegenüber dem Einzelunternehmen. Die Zentralisierung der Volkswirtschaft lässt die Staatsgewalt zu einem Faktor von gewaltiger Bedeutung werden. Aber eben deshalb gilt es, die Politik der Regierung nicht nach den Summenresultaten, nicht nach den nackten Ziffern der Statistik zu beurteilen, sondern nach der spezifischen Rolle, welche bewusste Voraussicht und planmäßige Leitung bei der Erreichung dieser Resultate spielten.

Die Zickzacks des Regierungskurses spiegelten nicht nur die objektiven Widersprüche der Lage wider, sondern auch die ungenügende Fähigkeit der Herrschenden, rechtzeitig die Widersprüche zu erkennen und vorbeugend darauf zu reagieren. Die Felder der Führung lassen sich nur schwer in buchhalterischen Größen ausdrücken. Aber schon die schematische Darstellung der Geschichte der Zickzacks erlaubt mit Bestimmtheit den Schluss, dass diese die Sowjetwirtschaft mit einer riesigen Ziffer zusätzlicher Unkosten belasten.

Allerdings bleibt es einem, wenigstens bei rationalistischem Herantreten an die Geschichte, unbegreiflich, wieso und warum die ideenärmste und am meisten an Fehlern krankende Fraktion gegen alle anderen Gruppierungen sich behauptete und eine unumschränkte Macht ansammelte. Die fernere Analyse wird uns auch zu diesem Rätsel den Schlüssel liefern. Wir werden sehen, wie die bürokratischen Methoden der selbstherrlichen Führerschaft in immer größeren Gegensatz geraten zu den Erfordernissen der Wirtschaft und der Kultur, und wie daraus notwendigerweise sich neue Krisen und neue Erschütterungen in der Entwicklung der Sowjetunion ergeben.

Bevor wir jedoch an das Studium der doppelten Rolle der „sozialistischen“ Bürokratie schreiten, wird es notwendig sein, die Frage zu beantworten: welches ist nun die allgemeine Bilanz des Erreichten? Ist der Sozialismus in der UdSSR tatsächlich verwirklicht? Oder vorsichtiger: sind die vorhandenen wirtschaftlichen und kulturellen Errungenschaften eine Sicherung gegen die Gefahr einer kapitalistischen Restauration, ähnlich wie die bürgerliche Gesellschaft auf einer bestimmten Etappe durch die eigenen Fortschritte gegen die Restauration des Feudalismus und der Leibeigenschaft gesichert war?



Kapitel III:
Sozialismus und Staat